IMPULSREFERATE UND DISKUSSIONSRUNDE | 12. MÄRZ 2021, 14.00 – 16:30 UHR
Prof. Dr. Hans-Martin Schönherr-Mann
Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaften, München
BIOGRAPHIE
Prof. Dr. Hans-Martin Schönherr-Mann, Prof. für politische Philosophie am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft der Universität München; Promotion 1982 über praktische Philosophie bei Hegel und Kant; Habilitation 1995 über postmoderne Ethik, Gastprofessuren regelmäßig seit 2004 an der Universität Innsbruck, mehrfach an der Venice International University, an der Katholischen Universität Eichstätt, an der Universität Regensburg, außerdem an der Università di Torino und der Universität Passau.
Wichtige Buchveröffentlichungen: Dekonstruktion als Gerechtigkeit – Jacques Derridas Staatsverständnis und politische Philosophie, Nomos Verlag, Baden-Baden 2019, Michel Foucault als politischer Philosoph, Innsbruck University Press 2018, Friedrich Nietzsche – Leben und Denken, Verlag Römerweg, Wiesbaden 2020, Arendt als politische Philosophin, μετωνυμίες VII, BoD, Norderstedt 2020, Albert Camus als politischer Philosoph, Innsbruck University Press 2015, Untergangsprophet und Lebenskünstlerin – Über die Ökologisierung der Welt, Matthes & Seitz, Berlin 2015; Was ist politische Philosophie? Campus Verlag, Frankfurt/M., New York 2012; Die Macht der Verantwortung, Verlag Karl Alber – Hinblick, Freiburg, München 2010; Miteinander leben lernen – Die Philosophie und der Kampf der Kulturen, Vorwort von Hans Küng, Piper Verlag, München 2008; Simone de Beauvoir und das andere Geschlecht, dtv, München 2007; Hannah Arendt – Wahrheit, Macht, Moral, C.H. Beck, München 2006; Sartre – Philosophie als Lebensform, C.H. Beck, München 2005; Politischer Liberalismus in der Postmoderne – Zivilgesellschaft, Individualisierung, Popkultur, Wilhelm Fink Verlag, München 2000; Die Technik und die Schwäche – Ökologie nach Nietzsche, Heidegger und dem ’schwachen Denken‘, Vorwort v. Gianni Vattimo, Edition Passagen, Wien 1989; Von der Schwierigkeit Natur zu verstehen– Entwurf einer negativen Ökologie, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1989; Die Krise der westlichen Demokratie und die Rolle der Zivilgesellschaft
THESEN ZUM VORTRAG
Colin Crouch prägt 2004 das Wort von der Postdemokratie: die westlichen Demokratien werden zunehmend durch den Einfluss der Finanzmärkte, der internationalen Konzerne, durch die Massenmedien und vor allem durch den Abbau des Sozialstaates beeinträchtigt. Doch demokratischer wurden die westlichen Länder primär durch den Einfluss der Sozialbewegungen seit den sechziger Jahren, die eine Zivilgesellschaft entstehen ließen und die dabei neue Formen der demokratischen Partizipation entfalteten. Denn politischen Einfluss verschafften sich aktive Bürgerinnen nicht mehr nur dadurch, dass sie sich in politischen Parteien engagierten, sondern dadurch, dass sie außerhalb der Institutionen jeweils spezielle Interessen vertreten haben, denen die politischen Parteien nicht mehr einfach ausweichen konnten.
Dabei insistierten immer mehr Menschen auf ihren Grund- und Menschenrechten. Sie beanspruchten Mündigkeit – d.h. sie wehrten sich gegen obrigkeitliche Bevormundungen – und individuelle Verantwortung, sich nichts vorschreiben zu lassen. So bemerkt Charles Taylor 2007: „Es wird gang und gäbe, die ‚eigenen Angelegenheiten’ selbst erledigen zu wollen.“
Wie sich Kant Pflicht grundsätzlich freiwillig vorstellte, aus der dann in der militarisierten Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ein Zwang wurde, so ist jedoch ein Trend entstanden, individuelle Verantwortung, die Sartre und de Beauvoir aus dem Geist des Widerstands gegen den Nationalsozialismus entwarfen, in Zwang zu transformieren. Wie im 19. Jahrhundert die Menschenrechte durch autoritäre Strukturen ausgehebelt wurden, so neigen die zeitgenössischen Demokratien dazu, Mündigkeit aufzuheben. Ist die Epoche an ihr Ende gelangt, für die man Virginia Woolfs Worte geltend machen konnte: „Ungefähr im Dezember 1910 änderte sich die menschliche Natur.“
Bildquelle: Michael Ruoff