Leitartikel – Denkanstöße: Was die Stadt zusammenhält
Das Risiko modern zu denken, das ist der Titel einer Ausstellung, die gerade im Ulmer Museum läuft. Was hier als modern bezeichnet wird, ist allerdings schon 700 Jahre alt. Damals, und damit lange vor Luther, hat das Franziskanermönchlein Wilhelm von Ockham das Denken ein bisschen auf den Kopf gestellt. Oder sollte man sagen: vom Kopf auf die Füße? Einerlei, jedenfalls hat – wie jetzt im Ulmer Museum zu sehen – der Grafiker und Denker Otl Aicher aus Söflingen Ockhams Leben kongenial in einem Bilderbogen nachgezeichnet.
Das Risiko modern zu denken, das ist ein ganz schön hoher Anspruch. Heutzutage ist oft schon das Risiko, überhaupt zu denken, lobenswert. Gelegenheit dazu geben die Ulmer Denkanstöße, die es jetzt im dritten Jahr im Stadthaus gab. Eine Veranstaltung, die man nicht unterschützen sollte.
Warum? Weil hier die Stadt Ulm und die Universität Ulm einmal ihre Kräfte bündeln, um das Miteinander der Ulmer zu verhandeln.
Warum? Weil hier praktische Erfahrung und theoretische Ansätze zusammentreffen, um das Miteinander zu regeln.
Warum? Weil hier Themen zur Sprache kommen, die die Stadtgesellschaft mit sich ausmachen muss, will sie nicht auseinanderfliegen. Man erinnere sich:
2008: Multikulturalität. Oder sagen wir mal so: Wie lebe ich mit meinem Ausländer zusammen?
2009: Würde am Ende des Lebens. Oder sagen wir mal so: Was gehen mich schon Alter und Tod an?
2010: Gesellschaft ohne Respekt. Oder sagen wir mal so: Wer will schon gern die Fresse vollhaben?
Sage keiner, er habe allgemeingültige Lösungen für solche Fragen. Genau deswegen sind diese Denkanstöße so anstoßerregend. Und sie verpflichten zumindest die maßgeblichen gesellschaftliche Kräfte auf wichtige schwierige Themen. Im Stadthaus sind nämlich alle dabei. Der Herr Kulitz von der Wirtschaft und der Herr Gohl von der Kirche und alle anderen auch. Und keiner kann nachher sagen, er habe damit nichts zu tun.
Die Denkanstöße sind ein wichtiger Beitrag, die Stadt zusammenzuhalten, ein Schwörmontag alleine schafft das nicht mehr. Gemeinsam feiern ist zwar eine geile Sache, hilft aber nur leicht vorübergehend, Probleme zu lösen. Nun kann eingewendet werden, dass es letztlich immer noch Handel und Wandel und eine funktionierende Wirtschaft und das Geld sind, die zeigen, wo der Hammer hängt. Aber ist dies tatsächlich eine verlässliche Größe für die angesprochenen Problemlagen?
Otl Aicher sah das Dilemma der Kommunen darin, dass sie am Tropf des Zentralstaates hängen. Das ist das, was auch der Ulmer Oberbürgermeister stets beklagt. Es ist vorbei mit der Herrlichkeit der unabhängigen Stadt, die ihre Angelegenheiten selber regelt, mit „Daseinsgarantie f?r Kranke und Alte“, wie Aicher sagte: „Eine heutige Stadt ist schon glücklich, wenn sie sich eine Fußgängerzone leisten kann. Sie kann wenig tun, dem Bild einer Zivilisation etwas entgegenzuhalten, die vom Konsum bestimmt wird.“ Hart, aber nicht unbedingt wahr, muss man dem Söflinger nachrufen.
Man kann auch Stärke zeigen in der Einigkeit der Fragestellungen. Das Risiko modern zu denken bestand nach Ockham darin, dass der Mensch frei ist, diese Freiheit dann aber auch zu verantworten hat. Das ist topaktuell. So gesehen darf sich Ulm 700 Jahre später zumindest geistig voll auf der Höhe fühlen. Und die Ulmer handeln danach. Im Kulturverein. Im Hospiz. Vielleicht auch vermehrt auf der Straße. JAKOB RESCH
Erscheinungsdatum: Samstag, 6. März 2010
Quelle: Südwest Presse