3. Ulmer Denkanstöße über die Verrohung der Gesellschaft
Ulm. Vier Tage lang befassten sich die Ulmer Denkanstöße mit der Gewalt in unserer Lebenswelt. Die Frage, warum wir scheinbar zu einer Gesellschaft ohne Respekt mutieren, wurde nicht immer erschöpfend beantwortet.
„So bleibt uns nichts anderes übrig, als am Ich und am Wir zu arbeiten.“ Dieses ernüchternde Fazit zog am Samstagabend Prof. Dieter Beschorner, der Sprecher des Vorstands des Humboldt-Studienzentrums an der Universität Ulm. Gerade waren die 3. Ulmer Denkanstöße mit einer Podiumsdiskussion zu Ende gegangen, die das Humboldt-Studienzentrum zusammen mit der Stadt Ulm und der Sparda-Bank veranstaltet hatte. Das Thema: die spürbare, tagtägliche Gewalt inmitten unserer Gesellschaft. Und trotz allem geballten Sachverstand, der sich an drei von vier Tagen in Vorträgen und Analysen redlich mühte, Licht ins Dunkel zu bringen, gab es keine hinreichenden Antworten – und schon gar keine Lösung für die Problematik.
Einer der Höhepunkte der diesjährigen Denkanstöße war der überaus gut besuchte und allgemein verständliche Vortrag von Richard David Precht, Philosoph, Essayist und Publizist (wir berichteten). Aber auch die anderen Fachmänner und Fachfrauen, so Prof. Renate Breuninger, Geschäftsführerin des Humboldt-Studienzentrums, hätten das Publikum mit ihren Analysen beeindruckt. Die Symposien seien gut besucht gewesen, auch von Jugendlichen. Etwas enttäuscht war die Organisatorin der Denkanstöße von der abschließenden Podiumsdiskussion am Samstagabend. Da sei zu vieles durcheinander gegangen, auch habe das Gespräch darunter gelitten, dass einige Podiumsteilnehmer frühzeitig zu ihren Zügen eilen mussten.
Wenn die verbliebenen Besucher des Abschlusspodiums etwas mit auf den Weg nach Hause genommen haben, dann die Erkenntnis, dass es mehrere Gründe für die Verrohung unserer Gesellschaft gibt: die fast schon normale Gewalt, die täglich auf dem Fernsehbildschirm zu sehen ist, der sorglose Umgang mit dem weltweiten Internet, nahezu grenzenlos gewalttätige Computerspiele. Weniger der Staat, vielmehr die Familie sei gefordert, regulierend einzugreifen, Grenzen zu ziehen in einer grenzenlosen Gesellschaft. Diesbezüglich ist der Sozialwissenschaftler Prof. Meinhard Miegel, einst Leiter der Hauptabteilung Politik in der CDU-Bundesgeschäftsstelle und jetzt Stiftungsvorsitzender des Denkwerks Zukunft in Bonn, überaus skeptisch. In seinem der Podiumsdiskussion vorausgegangenen Vortrag hatte er ein pessimistisch-düsteres Fazit gezogen: Eigentlich sei die „Mach-was-Du-willst“-Gesellschaft, die nur auf den Sozialstaat schaue, am Ende. Andere wie die Psychiaterin Prof. Renate Schepker aus Weißenau bei Ravensburg versuchte, die Wirtschaft mit einzubinden: Sozialarbeit durch Streetworker sei sicher gut: „Aber wichtiger ist es, dass Menschen einen Arbeitsplatz bekommen. Das schafft Perspektive.“
Vielleicht den größten Beifall auf dem Podium erhielt der Rechtsanwalt Marc Liesching aus München, spezialisiert auf Jugendschutz und Medienrecht: Der Staat könne nur Flankenschutz geben. „Wenn die elterliche Erziehung versagt, dann hilft auch kein Staat mehr.“ Pfarrer Hartmut Hühnerbein, Sprecher des Christlichen Jugenddorfwerks, bedauerte, dass die ersten sechs Lebensjahre von Kinder weniger in der Familie, sondern mehr in Krippen, Kindergarten, Schulen und Horten stattfinden. „Ich bin privilegiert erzogen worden. Meine Mutter hatte alle Zeit der Welt für mich.“ Diese Aussage forderte den Widerspruch der Psychiaterin Schepker heraus: „Das ist mir zu einfach.“ Alleinerziehende würden zu sehr allein gelassen. Auch die geforderte Flexibilität am Arbeitsplatz und der damit verbundene Umzug vieler Familien befördere nicht gerade den Halt in der Gesellschaft.
Erscheinungsdatum: Montag, 1. März 2010
Quelle: Südwest Presse