ABSCHLUSSVORTRAG | 14. MÄRZ 2020, 17.00 UHR
Paul Kirchhof
Verfassungs- und Steuerrechtler
BIOGRAPHIE
Paul Kirchhof studierte Rechtswissenschaften an den Universitäten Freiburg und München. Nach der Promotion in München und der Habilitation in Heidelberg war er von 1975 bis 1981 ordentlicher Professor für Öffentliches Recht und Direktor des Instituts für Steuerrecht der Universität Münster, von 1976 bis 1978 dort auch Prorektor und Stellvertreter des Rektors. Seit 1981 lehrt er als Ordentlicher Professor für öffentliches Recht an der Universität Heidelberg, war dort von 1981 bis 2013 Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht, 1984 und 1985 auch Dekan der Juristischen Fakultät.
1987 wurde er zum Richter des Bundesverfassungsgerichts berufen und wirkte dort bis 1999 als Mitglied des Zweiten Senats. Von 2000 bis 2011 leitete er die Forschungsstelle Bundessteuergesetzbuch der Universität Heidelberg. Er war von 1999-2006 Vorsitzender der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft, von 2004-2008 Präsident des Deutschen Juristentages und von 2013-2015 Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Seit 2013 ist er Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht der Universität Heidelberg. 2018 ist bei Herder sein Buch „Beherzte Freiheit“ erschienen, das einen Weg zu selbstbewusster und gelassener Freiheit in der Moderne von Finanzstaat, Digitalisierung und weltweiten Begegnens weist.
THESEN ZUM VORTRAG
Der moderne Mensch gestaltet sein Leben selbstbewusst im Bemühen um stete Verbesserung, will seine Freiheit beherzt wahrnehmen. Im Wirtschaftsleben strebt er nach größtmöglichem Gewinn, sucht im Wettbewerb den Konkurrenten zu überbieten, erwartet von der Gesamtwirtschaft ein jährliches Wirtschaftswachstum. Industrie und Medizin verheißen Leistungen nach „neuestem Stand von Wissenschaft und Technik“. Die Wissenschaft sucht den stetigen Fortschritt. Die Europäische Union ist auf dem Weg zu einer „immer engeren“ Gemeinschaft. Die Menschen trauen sich zu, ihre Erklärungen „nach bestem Wissen und Gewissen“ zu geben. Diese Optimierungsstrategien sind Ausdruck von Selbstbewusstsein und Lebensfreude, können aber auch die Kultur des Maßes gefährden. Der übermäßige Genuss, extremer Sport, das Bilanzieren nur noch in Zuwachsraten überfordern den Menschen, machen süchtig, drängen in Spiel und Wette. In Zeiten der Atomspaltung, der Genforschung und der Psychopharmaka darf der Mensch nicht mehr alles tun, was er kann, sondern muss sein Können auf sein Dürfen abstimmen. Freiheit ist stets verantwortliche Freiheit, individuell für sich selbst, gemeinschaftlich für den anderen. Der Staat muss parlamentarischen Willen von gesetzlicher Willkür abheben, sein Handeln vor dem Wähler, auch dem einzelnen Grundrechtsberechtigten verantworten. Eine bloße Verantwortung vor dem „Markt“ läuft ins Leere.
Wir müssen uns zur Freiheit neu qualifizieren. Freiheit muss in eigenem Namen mit eigenem Gesicht wahrgenommen werden, darf nicht in die Anonymität – die organisierte Unverantwortlichkeit – ausweichen. Das Gesetz muss seine Grundsätzlichkeit und Allgemeinheit zurückgewinnen. Die Toleranz wird wieder zu dem intellektuellen Kraftakt, der das Maß vom Übermaß unterscheidet, Ehrbarkeit von Dreistigkeit, Anstrengung von Selbstüberforderung.
Bildquelle: Archiv Paul Kirchhof