Peter Sloterdijk umspannt im Stadthaus die Menschheitsgeschichte
Ulm. Bei Festredner Peter Sloterdijk wurde der Meier-Bau bis zu den übertragungsstationen Treppenhaus und Oberetage des Stadthauscafés mit Videoprojektionen zum multimedialen Hörsaal. Gleich zu Beginn dieser vierten „Ulmer Denkanstöße“ rief Ulms Kulturbürgermeisterin Sabine Mayer-Dölle das Publikum im bis ins Treppenfoyer bespielten Stadthaus zu einer Schweigeminute im Stehen in Gedenken an die Opfer der japanischen Tragödie auf. Bildungsministerin Annette Schavan konnte nicht an der Eröffnung der Veranstaltungsreihe des Humboldt-Studienzentrums der Uni Ulm, der Stadt und der Sparda-Bank, teilnehmen: Kurzfristig war beim Bundespräsidenten eine Sitzung wegen der Katastrophenhilfe für das gepeinigte Land einberufen worden.
Die Philosophie finde in Zeiten der Umbrüche ein ungeahntes Interesse, konstatiert Mayer-Dölle auch für die Ulmer Stadtgesellschaft öffentliches Interesse hinsichtlich der Bemühungen des Studienzentrums für Philosophie und Geisteswissenschaften. Dieses ist angedockt an die Uni auf dem Oberen Eselsberg, die keine geisteswissenschaftliche Fakultät hat. Toleranz und Dialog sind laut Mayer-Dölle mehr denn je gefordert. Unterm Strich zähle mehr das „Wir“ als das „Ich“. Diese Einschätzung teilt auch Sparda-Bank-Vorstandsvorsitzender Thomas Renner.
Uni-Präsident Joachim Ebeling hebt in der Umkehrung das „Ich“ im Zusammenwirken mit dem „Wir“ hervor: „Eine Doktorarbeit sollte zumindest das Werk eines Einzelnen sein“. In Sachen einer von vielen seit Langem vermissten geisteswissenschaftlichen Fakultät an der Universität gab sich Ebeling eher skeptisch: Alle Ulmer Vorstöße seien von Stuttgart bislang abgeschmettert worden. „Doch“, so Ebelings Aufruf nach Bildung in einer Ich und Wir-Gesellschaft: „Wenn wir alle zusammenhalten, können wir’s möglicherweise vielleicht doch noch schaffen“. „Sloterdijk ist im Raum“, ruft Renate Breuninger, die den großen Denker zu den von Musiktalenten des SpardaPreCollege der Karlsruher Musikhochschule hochkarätig untermalten „Ulmer Denkanstößen“ holen konnte.
Der TV-bekannte Philosoph und Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe bindet zum Ende seines über gut Eineinviertelstunden packenden, kulturphilosophischen Vortrags zum Thema „Der starke Grund zusammen zu sein“ den durch die Erbeben- und Tsunami-Katastrophe ausgelösten Reaktor-GAU in Fukushima in seinen anthropologischen Exkurs mit ein.
Dieser große Kopf bewegt sich auf den massigen Schreibtisch via Podium zu, nimmt Platz zwischen Selters und Großleinwand, lächelt verschmitzt, unterstreicht mit Bewegungen der rechten Hand die Signalwirkung seiner Sätze, zwirbelt im Nachsinnen oder Neuansatz seinen Oberlippenbart und packt mit seinem monologisch verästelten Essay in verhaltenem, aber klar vernehmlichem und akzentuierendem Stimmtimbre die Menschheitsgeschichte beim Schopfe. Ein Skandal im „Synchronstress“ der „Sorgengemeinschaften“ sei immer ein Fest für den Soziologen, positioniert er sich angesichts eines „artifiziellen Sorgenclubs“ Deutschland.
Ausgehend von der Menschheitszerstreuung durch uralte afrikanische Wanderbewegungen erkennt er heute das (globalisierte) Zeitalter der „Wiederversammlung“, das gekennzeichnet sei durch das Paradoxon der „Verwandtschaft mit der Unfähigkeit des Zusammenkönnens“. Der Staat von heute sei Mitglied einer „paradoxen Gattung“. Zuvor charakterisiert er „acht starke Gründe“ des Zusammenlebens: Dazu rechnet er Motiv stiftende soziale Bande ebenso wie den „Zirkulationsraum der Gabe“ (die im Kreislauf von Geben und Nehmen etwas zurück wolle) oder die Solidargemeinschaft bis zur massiven Stresskooperation: In Japan hätten sich freiwillig Männer für die Arbeit in den Unglücksreaktoren gemeldet.
Im Übrigen hält es Sloderdijk, der auch als Analytiker im Plauderton antiker und biblischer Mythen glänzt, in seiner Epochen umfassenden Ideen-, Verhaltens- und Menschheitsanalyse, mit Erich Kästner: „Der Mensch ist gut! Da gibt es nichts zu lachen!“ ROLAND MAYER
Erscheinungsdatum: Montag, 21.03.2011
Quelle: Augsburger Allgemeine